Der hier wiedergegebene Artikel erschien im Juni 2023 in der Zeitschrift „Informationen“ des Studienkreises Deutscher Widerstand 1933 – 45
Die Ludwigsburger Stolperstein-Initiative wurde 2007 gegründet. Immer wieder gibt es Menschen, die aufgrund persönlicher Erlebnisse von Eltern oder Großeltern mit Opfern der Nazi-Diktatur die Biographie eines Opfers recherchieren und die Verlegung von Stolpersteinen begleiten. Einige Akteure der Gruppe widmeten sich der Recherche von Opfergruppen, die öffentlich oder medial kaum Aufmerksamkeit erhalten oder die vom Parlament erst spät als Opfer anerkannt wurden wie beispielswqeise Wohnsitzlose (von den Nazis so genannte „Asoziale“) im Jahr 2020 oder Deserteure und sogenannte „Kriegsverräter“ 2009.
Ludwigsburg beherbergte seit der Gründung in früher herzoglicher Zeit im 18. Jahrhundert als Residenzstadt Württembergs eine Garnison und galt in dieser Zeit als das „schwäbische Potsdam“ bis in die 1990er Jahre, als die Soldaten der Bundeswehr und der US-Army die Kasernen in der Stadt verließen.
Während des Zweiten Weltkriegs war Ludwigsburg sowohl Ort der Militärgerichtsbarkeit wie auch Hinrichtungsstätte. Mindestens 26 Todesurteile wurden wegen „Wehrkraftzersetzung, Desertion oder Verstoß gegen die KSSVO (Kriegssonderstrafrechtsverordnung)“ ausgesprochen und vollzogen. Weitere fünf Deserteure, die durch Kriegsgerichte von in Ludwigsburg stationierten Einheiten verurteilt worden waren, wurden im Lichthof des Landgerichts in Stuttgart hingerichtet. Außerdem wurden in Ludwigsburg 17 belgische und 25 französische Widerstandskämpfer hingerichtet. Weitere drei belgische und vier französische Widerstandskämpfer starben im Gefängnis, als sie auf ihre Hinrichtung warteten.
Diesen Opfern soll mit einem Mahn-Denk-Mal gedacht werden, das in räumlicher Nähe zum Schießplatz, an dem die Exekutionen vollzogen wurden und das direkt am vielbefahrenen Neckartal-Radweg aufgestellt wird.
Die Mühen der Recherche
Die mehr als zehnjährige Recherche zu den Opfern war und ist aufwändig. Der frühere Leiter des Stadtarchivs hatte 2009 ein zweibändiges, mehrere Hundert Seiten starkes Werk „Schwäbisches Potsdam – Ludwigsburg als Garnison“ veröffentlicht. Zu den Hingerichteten findet sich leider nur ein Sechstel einer Seite dazu [1]. Immerhin war es möglich, über die dazugehörige Quellenangabe im Stadtarchiv in den Akten des Garten- und Friedhofsamtes weiter zu recherchieren. Dabei handelt es sich um Bestattungsscheine, die Auskunft über die Namen, Geburts- und Erschießungstage, Truppenteile und -standorte und teilweise über die Namen der Eltern Auskunft geben.
Eine Recherche im Landesarchiv Baden-Württemberg im Bestand der Entschädigungsakten (Anträge von Nachkommen oder von Opfern des Faschismus) führte nicht weiter – es gibt keine einzige Akte dazu. Anschreiben an die Stadt-/Gemeindearchive der Geburtsorte der hingerichteten Soldaten folgten.
Da ca. zwei Drittel von ihnen unverheiratet und unter 25 Jahren waren, kamen als mögliche Nachkommen für weitere Auskünfte Neffen, Nichten oder bei Verheirateten mit Kindern ggf. Enkel in Frage. Aus Datenschutzgründen konnten die Archive die Kontakte der Nachkommen nicht direkt an den Rechercheur weitergeben. Sie leiteten aber seine Kontaktdaten an die Hinterbliebenen zur weiter. Leider gab es keine Reaktion der Verwandten oder Kontaktaufnahme. In einem Fall kannte die Stadtarchivarin die Familie des Hingerichteten, weil der Erschossene ein Schulfreund ihres Vaters war. In der Familie des Opfers galt er als „vermisst“. Aber niemand nahm den Kontakt mit der Stolperstein-Initiative auf – auch nicht nach der Übermittlung eines Fotos vom Grab des Erschossenen auf dem Alten Friedhof Ludwigsburgs.
Das Thema scheint in Deutschland immer noch ein Tabu zu sein. Vergleichbares erlebte die Stolperstein-Initiative, als sie für einen Ludwigsburger Soldaten, der 1944 wegen defätistischer Äußerungen in Dünkirchen hingerichtet wurde, einen Stolperstein verlegen wollte. Die Töchter, die noch im elterlichen Wohnhaus lebten, intervenierten dagegen massiv.
Nur ein Enkel eines Deserteurs hat sich aufgrund eines Zeitungsartikels über das Mahn-Denk-Mal-Projekt gemeldet und hat weitere Details über die Folgen der Exekution für die Familie berichtet. Er will bei der Enthüllung der Skulptur dabei sein.
Ein weiterer Recherche-Zugang war – insbesondere zu den belgischen und französischen Widerstandskämpfern – die „Streiflichter aus Verfolgung und Widerstand 1939-45“ [2], die von der VVN-Kreisvereinigung Ludwigsburg von 1983 bis 2001 in mehreren Heften veröffentlicht wurden. Mit großem Engagement hatten die Herausgeber*innen Zugang zu Informationen verschafft, die bis dahin nur in minimalem Umfang in der Öffentlichkeit bekannt waren. Schwerpunkte der Darstellung waren politisch und rassistisch Verfolgte und Patientenmorde. Ein Heft hatte als Schwerpunkt französische Widerstandskämpfer und gab (wie auch die anderen Hefte) den Stand wieder, der zum damaligen Zeitpunkt machbar war. Zahlreiche Beiträge sind ohne wissenschaftlichen Anspruch erstellt und damit auch oft ohne Quellenangaben.
In den Beständen des Garten- und Friedhofsamtes im Stadtarchiv Ludwigsburg konnten auch für die 25 französischen und 17 belgischen Widerstandskämpfer die Basisdaten ermittelt werden. Die Anfragen bei den französischen Gemeindeverwaltungen waren sehr erfolgreich: meist wurden Scans von Geburts- und Heiratsurkunden und andere in den Archiven vorhandenen Dokumente ohne große Formalitäten zugeschickt. Viele französische Gemeinden haben auch auf ihren Websites das Gedenken an die örtlichen Resistance—Kämpfer mit Biographien veröffentlicht, einschließlich Links zu den Websites von Resistance-Organisationen. [3]
Die belgischen Gemeindeverwaltungen (insbesondere im flämischen Landesteil) waren nicht so auskunftsfreudig wie ihre französischen Kolleg*innen. Da aber viele der in Ludwigsburg Hingerichteten Teil des Netzwerkes „Comète“ waren, konnten über die Website [4] weitere Informationen gewonnen werden. Über eine Wikipedia-Recherche konnte herausgefunden werden, dass der Brüsseler Gemeindeangestellte Octave Mondo, der ebenfalls in Ludwigsburg exekutiert wurde, in der Gedenkstätte „Yad Vashem“ als „Gerechter unter den Völkern“ geführt wird.
Ausgehend vom Zeitpunkt und Ort der Hinrichtung im Schießtal war der nächste Schritt die Sichtung der Gefängnisbücher der Strafanstalten Stuttgart und Ludwigsburg im Landesarchiv Baden-Württemberg. Damit konnte die Biographien der Opfer vom Hinrichtungsort weiter zurückverfolgt werden, insbesondere, welche Wehrmachtsgerichte jeweils für die Erschießungen verantwortlich waren. Die Urteile über die belgischen und französischen Widerstandskämpfer wurden von Sondergerichten ausgesprochen (bei den Franzosen meist vom Sondergericht Freiburg) und von den Wehrmachtsgerichten der in Ludwigsburg zu diesem Zeitpunkt stationierten Truppenteilen bestätigt und vollzogen. Oft ging einer Hinrichtung der französischen Opfer eine Odyssee durch mehrere Gefängnisse voraus.
Die Militärgerichtsbarkeit
Um eine erweiterte Recherchestrategie hinsichtlich der Biographien der Deserteure zu entwickeln, war es sinnvoll, zunächst die einschlägige militärhistorische Literatur zu rezipieren. Insbesondere die Funktionsweise und die Abläufe der Militärgerichtsbarkeit mussten verstanden werden. Das Militärstrafrecht erleichterte ab 1943 zunehmend die Möglichkeit, Todesurteile zu verhängen (bis hin zu Tätigkeiten, die „dem gesunden Volksempfinden widersprechen“). Insgesamt gehen die Militärhistoriker davon aus, dass ca. 15.000 Todesurteile wegen Fahnenflucht vollstreckt wurden – dazu kommen noch die von „Standgerichten“ in den letzten Kriegstagen. Im Heer gab es, allein schon aufgrund der zahlenmäßigen Gewichtung dieses Truppenteils, die meisten Fahnenflüchtigen.
Die Militärgerichtsbarkeit verurteilte weit mehr Menschen zum Tode als die (zivile) NS-Sonderjustiz – also z.B. der Volksgerichtshof und die Sondergerichte. Lokalen Untersuchungen zufolge wurden viele Desertionen von angeklagten Soldaten als „unerlaubte Entfernung“ „getarnt“ wurden, um die weit strengere Bestrafung wegen Fahnenflucht zu vermeiden. Es war nicht von vorneherein entschieden, dass Hitlers Credo: „Ein Soldat kann sterben, ein Fahnenflüchtiger muss sterben“ auch in jeden Fall umgesetzt wurde. Gerade in Ersatz- und Ausbildungsabteilungen des Ersatzheeres war das unerlaubte Fernbleiben von der Truppe nichts Außergewöhnliches. 17 der 26 in Ludwigsburg hingerichteten Soldaten waren unter 25 Jahre alt - 18 dienten zuletzt in Ausbildungs- und Ersatz-Einheiten. Die Militärhistoriker*innen haben bei der Entwicklung der Desertionen deutliche Zusammenhänge zwischen der militärischen Lage an der Ostfront und dem Anstieg der Fahnenfluchten herausgearbeitet: Bereits bei der ersten Krise im Winter 1941/42 stiegen die Zahlen an, um dann bei Stabilisierung der Lage 1942 wieder zu fallen; nach Stalingrad schließlich erhöhten sie sich um ein Vielfaches. Vergleichbares sehen wir in Ludwigsburg: 1942 wurden vier, 1943 zwei, 1944 fünfzehn und 1945 noch fünf Soldaten (der letzte im April) hingerichtet.
Interessant ist auch die Verteilung der Desertionen zwischen Ersatz- und Feldheer. Während des gesamten Krieges desertierten erheblich mehr Soldaten aus dem Ersatzheer als aus dem Feldheer an der Front. Das bedeutet: Der Topos vom feigen Soldaten, der in der konkreten Kampfsituation seine Kameraden im Stich lässt und sich „davonmacht“, findet in den Zahlen keine Bestätigung.
Die Gründe für Desertionen waren selten ausdrücklich politisch, religiös oder moralisch motiviert. Viele wollten sich eher der aktiven Einbeziehung des sinnlosen Kriegsgeschehens ganz oder auf Zeit entziehen:
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